Hämatologische Neoplasien können durch erbliche Prädispositionen bedingt sein, die durch Keimbahnveränderungen in verschiedenen Genen, wie BRCA oder Mismatch-Repair-Gene, hervorgerufen werden. Etwa 5-10% aller soliden Tumorerkrankungen haben eine erbliche Basis. Spezifische pathogene Varianten, wie in den Genen RUNX1, CEBPA und DDX41, können unterschiedliche Formen myeloischer Neoplasien hervorrufen, teilweise verbunden mit Thrombozytenstörungen oder anderen Organfunktionsstörungen. Diese Varianten sind für Diagnose, Prognose und Therapieentscheidungen von Bedeutung und ermöglichen die Identifizierung von Risikopersonen in betroffenen Familien. Die aktuelle WHO-Klassifikation berücksichtigt diese Erkenntnisse und führt spezifische Kategorien für myeloische Neoplasien mit Keimbahnprädisposition ein.
Seit Beschreibung der ersten Tumordispositionssyndrome, wie dem hereditären Brust- und Eierstockkrebs auf Basis vererbter BRCA-Keimbahnveränderungen und dem erblichen Darmkrebs auf Basis vererbter Veränderungen der Mismatch-Repair-Gene, ist eine Vielzahl weiterer Prädispositionssyndrome hinzugetreten. So haben nach aktuellem Stand der Erkenntnis etwa 5-10% aller soliden Tumorerkrankungen eine erbliche Basis durch Keimbahnveränderungen in einem oder mehreren Tumorsuppressorgenen. Die Anlageträger sind in der Regel heterozygot und bleiben asymptomatisch, bis im Laufe des Lebens zufällig das zweite, noch intakte Allel durch spontane Varianten inaktiviert wird (second hit,Loss of Heterozygosity, LOH).
Auch bei den hämatologischen Neoplasien zeigt eine wachsende Evidenz, dass ein Teil der Erkrankungen das Ergebnis einer vererbten Prädisposition ist. Als Teilmanifestation komplexer Fehlbildungssyndrome waren Hämatopoesestörungen und Leukämien schon lange bekannt (u.a. Trisomie 21, Fanconi-Anämie, Shwachman-Diamond-Syndrom), bis vor einigen Jahren mit Keimbahnveränderungen in RUNX1 und CEBPA die ersten nicht-syndromalen Formen einer angeborenen Leukämiedisposition charakterisiert wurden. Die aktuelle WHO-Klassifikation trägt dieser Entwicklung Rechnung und führt erstmals ein Kapitel zu myeloischen Neoplasien mit Keimbahnprädisposition ein. Dabei liegen Erkenntnisse über molekulargenetische Veränderungen mittlerweile auch für lymphatische Neoplasien vor, teilweise ergeben sich Überschneidungen. Die Identifizierung dieser Keimbahnveränderungen dient einerseits als diagnostisches Kriterium, z.T. auch zu prognostischen und therapeutischen Zwecken, ermöglicht aber auch – analog zu den soliden Tumordispositionssyndromen – die Ermittlung von Risikopersonen und ist somit auch für Familienmitglieder erkrankter Personen extrem bedeutsam.
Genetik
Bei den myeloischen Neoplasien mit Keimbahnprädisposition werden nach aktueller WHO-Klassifikation drei Gruppen unterschieden:
Veränderungen in SAMD9 und SAMD9L prädisponieren ebenfalls zu MDS/AML in syndromaler Form (MIRAGE-Syndrom bzw. Ataxie-Panzytopenie-Syndrom).
Noch keine eigenständige Entität der aktuellen WHO-Klassifikation aber ebenfalls Gegenstand intensiver Forschung sind lymphatische Neoplasien mit Keimbahnprädisposition. Sowohl Veränderungen in TP53, PAX5, ETV6 sind bereits in familiären Fällen von ALL beschrieben. Dabei sind Keimbahnveränderungen in TP53 seit langem gut charakterisiert als Li-Fraumeni-Syndrom und gehen auch mit diversen myeloischen Neoplasien und Lymphomen einher.
Auch biallelische Veränderungen des ATM-Gens (Ataxia telangiectasia; Louis-Bar-Syndrom) disponieren in syndromaler Form unter anderem zu einer Vielzahl hämatologischer Neoplasien (AML, ALL, Lymphome).
Tabelle: Keimbahn-Varianten assoziiert mit Leukämien, mod. nach Porter 2016
Prädisposition | Vererbung | Gene | Veränderter Signalweg/Funktion | Maligne hämatologische Erkrankung | |||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||
Isolierte Krebs/Leukämie Prädisposition | |||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||
Li-Fraumeni-Syndrom | AD | TP53 | DNA-Reparatur | AML, ALL, sAML | |||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||
CMMRD | AR | MLH1, MSH2, MSH6 und PMS2 | DNA-Reparatur | T-NHL, B-NHL, T-ALL, B-ALL, MDS, AML | |||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||
weitere Inhalte anzeigen |
Diese Auflistung ist nicht als abschließend, sondern eher als Ausgangspunkt zu betrachten. Derzeit ist der genaue Anteil von akuten Leukämie- und MDS-Erkrankungen mit erblicher Prädisposition noch unbekannt, wird aber auf 5-10 % geschätzt. In Patientengruppen mit Kindern und jüngeren Erwachsenen werden prädisponierende erbliche Varianten in circa 10 % der Fälle beschrieben. Im Erwachsenenalter liegt diese Rate einerseits wohl niedriger, andererseits ist mutmaßlich erst ein Teil der erblichen prädisponierenden Varianten identifiziert worden.
Das Vorgehen zur Abklärung einer hereditären hämatologischen Neoplasie unterscheidet sich insofern von anderen Keimbahnveränderungen, als dass der von der Neoplasie betroffene Anteil des Organs – anders als bei soliden Tumoren – verfahrensbedingt nicht von den nicht-betroffenen Zellen des Blutes eindeutig abzugrenzen ist. Bei malignen hämatologischen Neoplasien ist daher der Goldstandard die Analyse an kultivierten Hautfibroblasten (Hautbiopsie). In Remission befindliche Patienten können prinzipiell auch über Mundschleimhautzellen getestet werden, allerdings ist hier die Gefahr einer Kontamination durch prämaligne oder Reste maligner Zellen gegeben, da mit einer Infiltration durch Lymphozyten auszugehen ist.
Hinweis zur prädiktiven Diagnostik:
Bei der prädiktiven Diagnostik werden gesunde Risikopersonen untersucht, in der Regel erstgradige Verwandte von Betroffenen. Laut Gendiagnostikgesetz (GenDG) soll bei jeder diagnostischen genetischen Untersuchung eine genetische Beratung angeboten werden. Bei prädiktiver genetischer Diagnostik muss laut GenDG vor der Untersuchung und nach Vorliegen des Resultats genetisch beraten werden (§10, Abs. 2 GenDG).
Tabelle: Expertenempfehlung zur Testung bei V. a. hereditäre hämatologische Neoplasien, mod. nach Bochtler et al. 2018
Auswahlkriterien von an akuter Leukämie und MDS erkrankten Patienten zur Testung auf eine hereditäre Prädisposition | |||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||
für Prädispositionssyndrom typische zyto- und molekulargenetische Aberrationen in den Leukämiezellen | Gen-Varianten in Leukämiezellen, wie beispielsweise biallelische CEBPA-, RUNX1- sowie bei jüngeren Erwachsenen GATA2-Varianten, hinter denen zwar wahrscheinlich eine sporadische Variante, aber eben auch eine Keimbahn-Variante stecken kann. Auch zytogenetische Merkmale wie beispielsweise ein Verlust des langen Arms von Chromosom 7 bei an MDS erkrankten Kindern oder jungen Erwachsenen rechtfertigen eine Abklärung. | ||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||
auf Prädispositionssyndrom hinweisende klinische Zeichen | klinische Merkmale, die suspekt auf ein Prädispositionssyndrom sind, wie beispielsweise kleiner Wuchs, Skelettabnormitäten, Lungenfibrose, auffällige Haut oder Haare | ||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||
weitere Inhalte anzeigen |
letzte Aktualisierung: 12.7.2024